Die Zeit drängt: 1,6 Millionen Tonnen Munition verrotten in Nord- und Ostsee. Eine Gefahr für den Menschen und die Umwelt. Wissenschaftler haben deutlich gemacht, dass die Bergung immer komplizierter werden könnte. Aus den sich zersetzenden Kampfmitteln werden Schadstoffe und Gifte wie TNT und krebserzeugende Nitroaromate und weißer Phosphor freigesetzt.

Kurz vor der Ostseeparlamentarierkonferenz am 30. August 2021 haben Fachleute, Politiker:innen und Akteure der Munitionsbergung in Mecklenburg-Vorpommern auf das Tempo bei der Bergung militärischer Altlasten in Nord- und Ostsee gedrückt.

„Die Lösungen liegen jetzt schon auf dem Tisch, was man brauche, sei die gemeinsame Runde, den Willen zur Einigung. Man habe nicht mehr die Zeit zu warten, sondern nur Zeit für den Prozess. Wir müssen mit der Technologie, die wir kennen, anfangen, damit einsteigen, da wir sonst niemals in irgendein Genehmigungsverfahren kommen“, sagt Claus Böttcher von der Sonderstelle Munition im Meer vom Schleswig-Holsteinischen Umweltministerium. Allein vor der Kieler Förde, dem besterforschten Versenkungsgebiet, läge ein gutes Drittel der deutschen Ankertauminen in so schlechtem Zustand, dass man da jetzt ran müsse.

Einig sind sich die Fachleute beim Klimatag in Kühlungsborn, einer Veranstaltung der Klima- und Umweltstiftung MV, dass vor allem die Vernichtung geborgener Munition der „Flaschenhals“ sei.

Nach einem Bundestagsbeschluss soll die Bundesregierung rund 100 Millionen Euro für ein Pilotprojekt zur Entsorgung der Munition vor Ort bereitstellen. Damit soll die von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg entsorgte Munition direkt an den Fundstellen der Versenkungsgebiete auf Plattformen so entsorgt werden, dass die giftigen Inhaltsstoffe keinen Schaden für die Umwelt anrichten.

Geld für Entsorgungsplattform auf See

Dieses Geld ist nach Einschätzung der Fachleute eine Anschubfinanzierung für eine Entwicklungsplattform; um zu verstehen, was ginge, um dann im nächsten Schritt besser zu werden und effizient zu sein.

Tommy Kaltofen von Thyssen und Krupp Marine Systems, der in Rostock Schiffbau und Meerestechnik studiert hat, sagte, Thyssen-Krupp habe mit Atlas Electronic vor zwei Jahren mit der Entwicklung begonnen – gemeinsam mit Fach-Experten der Kampfmittelbergung. Aktuell forsche man an einem Ofen, der pro Tag mit 3,6 Tonnen Munitionsschrott beschickt werden müsse, damit er nicht kalt werde – und „das müsse ja erst einmal geborgen werden.“

Geld und den politischen Willen für eine Entsorgungsplattform fordert auch der Leiter des Munitionsbergungsdienstes Mecklenburg-Vorpommern, Robert Mollitor. Derzeit habe man schon an Land in ganz Deutschland etwa 1500 Tonnen Munition, die geborgen und entsorgt werden müssen. „Das knarrt schon. Mehr geht eigentlich nicht. Der Bund will seine Waldflächen beräumen. Alles an Land“, sagt Mollitor. Man gucke jetzt schon nach zusätzlichen Entsorgungsmöglichkeiten. Tausende Tonnen geborgener Munition durch die Gegend zu fahren, sei aus seiner Sicht ohnehin Leichtsinn.

Fachleute und Technologien sind startbereit

Die Technologien für eine großangelegte Munitionsbergung in den Meeren stehen unterdessen bereit.

Die Firma Sea Terra stellt nach eigenen Angaben technische Lösungen bereit, „die weit vor dem sind, was politisch gewollt wird“, sagt Dieter Guldin von Sea Terra. „Wir warten nur darauf, dass der Startschuss kommt, und dass wir dann zeigen können, was möglich ist. In den letzten zwei bis drei Jahren sei die technologische Entwicklung tatsächlich an den Punkt gekommen, dass wir automatisiert arbeiten können.“

Bei der Veranstaltung in Kühlungsborn stellt Guldin die jüngste Technologie, einen Crawler, einen unterwassergestützten Bagger, vor. Dieser werde ferngesteuert auf Basis von 3-D animierten Daten. Der Crawler, der gerade in der Nordsee bei Wilhelmshaven im Einsatz war, sei zwar noch verbesserungswürdig, aber schon heute sei klar, dass er bei der Kampfmittelberäumung anders als andere Technik unabhängig von Strömung, schlechter Sicht und Wassertiefe einsetzbar sei. „Jetzt kann niemand mehr kommen und sagen: Wir können keine Kampfmittellagerstätte mit Artilleriemunition räumen. Das ist Geschichte. Wir haben bewiesen, dass es geht. Das ist ein Paradigmenwechsel.“

Auch Eyk-Uwe Pap von den Baltic Tauchern aus Rostock räumt seit 15 Jahren Munition aus Nord- und Ostsee mit mehreren Tonnen schweren Robotern. Zuletzt hat er mit einem so genannten Multitool Munition bei der Elb-Vertiefung in bis zu 20 Metern Wassertiefe geborgen. In den Wintermonaten wird er beim Munitionsbergen in Vietnam helfen. Aber vor der Haustür, in der Ostsee, gebe es mehr als genug zu tun. Und es sei wichtig, „gemeinsam mit den Entscheidungsträgern, mit der Landespolitik, eine Ebene zu finden, um uns um das Kerngeschäft zu kümmern; das heißt, nicht nur die kleinen mutigen Unternehmer, sondern auch die Entscheidungsträger und die Prüfbehörden müssen parallel dazu arbeiten, dass die Unternehmer die Rahmenbedingungen haben.“

Grenzüberschreitende nachhaltige Strategie entwickeln

Die politischen Rahmenbedingungen will die 1. Vizepräsidentin des Landtages MV, Beate Schlupp (CDU), schaffen, wie sie in Kühlungsborn zu verstehen gab. Sie ist gemeinsam mit dem Landtagsabgeordneten Philipp da Cunha (SPD) Mitglied in der Ostsee-Parlamentarier-Konferenz. Seit 2019 ist Beate Schlupp auch Beobachterin bei der HELCOM, einer zwischenstaatlichen Kommission, die für den Schutz der Meeresumwelt im Ostseeraum arbeitet.

Im Oktober dieses Jahres soll in Lübeck ein neuer HELCOM-Ostsee-Aktionsplan beschlossen werden. Darin soll die Problematik versenkter Munition thematisiert werden. Das, was dort in Lübeck auf den Tisch gelegt werde, so Beate Schlupp, sei die Vereinbarung bis 2030. Ihr Petitum daher: „Wenn es uns jetzt nicht gelingt, das Thema wirklich dauerhaft hier auf die Agenda zu setzen und zu Fortschritten zu kommen, sondern, wenn das jetzt wieder nach all diesen Aufschlägen versandet, dann haben wir die Zeit wirklich verspielt, um das Thema Munitionsbergung wirklich ernsthaft noch anzugehen – ohne dass es dann wirklich zu ernsthaften Belastungen in der Ostsee gekommen ist.“

Unser Klimatag rund um
den SCHUTZ DER OSTSEE
#2

Die Altmunition des Zweiten Weltkrieges liegt noch immer auf dem Grund von Nord- und Ostsee. Durch Rost und Verfall werden Giftstoffe freigesetzt. Zum Schutz unserer Meere muss bald gehandelt werden. Dieter Guldin von Sea Terra erläutert der 1. Vizepräsidentin des Landtages MV, Beate Schlupp, technische Lösungen zur Munitionsbergung.
Foto: Caro Freitag

Wir diskutierten mit

Beate Schlupp MdL, 1. Vizepräsidentin des Landtages MV, Beobachterin bei HELCOM

Philipp da Cunha MdL, Vorsitzender des Rechtsausschusses, Mitglied der Arbeitsgruppe Klimawandel und Biodiversität

Dieter Guldin, SeaTerra GmbH: Kampfmittelsondierung, Räumung und Sprengung

Warum Munitionsbergung in der Ostsee?

Etwa 1,6 Millionen Tonnen Munition und 5.000 Tonnen chemischer Kampfmittel wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in Nord- und Ostsee verklappt. Rund 100 Millionen Euro soll der Bund nach einem Beschluss des Bundestages für ein Pilotprojekt bereitstellen, um den hochgiftigen Munitionsschrott zu bergen. Bisher geschah das nur punktuell, wenn Baumaßnahmen es erforderlich machten.

Die Umweltministerkonferenz hat in einem Beschluss von März 2021 auf die Gefahren durch Munitionsaltlasten im Meer hingewiesen. Sowohl SPD und CDU, Grüne und FDP haben Anträge zur Munitionsbergung in den Bundestag eingebracht und damit einen klaren Handlungsauftrag benannt. Nach Einschätzung von Wissenschaftler:innen drängt die Zeit; wegen der fortschreitenden Korrosion könnte es bald zu spät sein zum Bergen.

Politik und Behörden müssen nun zügig die Voraussetzungen schaffen, damit dieses Szenario nicht eintritt. Mecklenburg-Vorpommern ist Mitglied im „Expertenkreis Munition im Meer“ der Ostseeparlamentarierkonferenz und unterstützt wissenschaftliche Vorhaben und Projekte, um das Problem der Munitionsaltlasten im Ostseeraum möglichst bald anzugehen.

Bei der Veranstaltung diskutierte Moderatorin Anke Rösler mit Expert:innen und Politiker:innen, wie Berge- und Entsorgungstechnik in den Meeren großflächig zum Einsatz kommen könnten und welche Möglichkeiten und Überlegungen es gibt, die Kampfmittelreste anschließend zu entsorgen.